Der Junge im See
Dichter Nebel zog über die Felder am Rande des Waldes. Es war einer von diesen gefährlichen Nebeln, die alles verschlingen, was weiter als einen halben Meter entfernt ist. Vorsichtig ritt Doreen daher auf Mantibar vorwärts. Der elegante Friese suchte sich langsam seinen Weg Richtung Wald. Sein schwarzes Fell glänzte von den vielen, kleinen Nebeltröpfchen, die sich auf ihm niedergelassen hatten. „Wohin will er bloß?“, fragte sich Doreen. Sie kannte Mantibar jetzt schon seit zehn Jahren. Damals war er als Fohlen auf den Hof ihres Vaters gekommen. Sein Besitzer wollte das eigenwillige, seltsame Pferdchen loswerden, das seinen eigenen Kopf hatte und sich von niemandem zähmen lassen wollte. Doreen hatte sich Mantibars angenommen. Sie und der Hengst wurden gute Freunde, die sich verstanden und einander vertrauten. Doch obwohl Doreen Mantibar schon so lange kannte, tat er oft Dinge, die sie sich nicht erklären konnte. So wie heute zum Beispiel. Sie hatte nicht schlafen können und war daher zu Mantibar in den Stall geschlichen. Sie hatte ihm von Steffen erzählt, wie er sie betrogen hatte und wie sehr verletzt sie war. Dieser Liebeskummer war für Doreen schrecklich gewesen. Dann plötzlich hatte Mantibar sie angestupst und gekniffen und das so lange bis Doreen ihn verstanden hatte und mit ihm ausgeritten war. Sie hatte zwar keine Ahnung, warum das Pferd in aller Herrgottsfrühe unbedingt mit ihr ausreiten wollte und schon gar nicht wohin. Aber Doreen wusste, wenn Mantibar irgendwohin wollte, dann würde er auch dorthin gelangen. Also hatte Doreen die Zügel hängen und sich von dem Rhythmus des Pferdes treiben lassen. Sie war gespannt darauf wohin sie Mantibar bringen würde. Er schritt immer tiefer und tiefer in den Wald hinein, bis er schließlich zu einem kleinen, entlegenen Waldsee gelangte. Dort blieb er unvermittelt stehen. Doreen blickte sich um. „Komisch, diesen See kenne ich gar nicht.“, dachte sie. Und das, obwohl sie ziemlich oft hier, im nahe gelegenen Wald ihres Dorfes, war. Langsam stieg sie ab und ging zu dem geheimnisvollem See. Sein Wasser war sehr klar, Doreen konnte fast auf den Grund des Bodens sehen. Vorsichtig rutschte sie näher an das Ufer heran. Was war das für ein silbriges Glitzern am Grund? Schnell griff Doreen mit der Hand ins Wasser. Vielleicht eine Kette, die am Boden schimmerte? Doch plötzlich zog Doreen ihre Hand erschrocken zurück. Denn die sanften Wellen, die sie mit ihrer Hand im Wasser gezogen hatte, waren unerklärlicherweise zusammengerückt und hatten eine Form gebildet. Es war eine Form, die Doreen kannte, es war ein... - „Aaah, das ist ja ein Mensch!“, schrie Doreen plötzlich auf.Sie blickte in die blauen Augen eines sanften Jungengesichts, der sie unverwandt aus den Tiefen des Sees anblickte. Doreen war starr vor Schreck. „Was zum Himmel ist das?“ Ein echter Mensch konnte es nicht sein, das stand für sie fest. Dafür war das Bild des Jungen zu verschwommen. Es sah eher so aus wie das Bild, das Doreen von Menschen hatte, wenn sie träumte. Aber sie war doch hellwach, das konnte kein Traum sein. Oder doch? Rasch drehte sich Doreen um, stieg auf Mantibar auf und trabte zurück nach Hause. Was auch immer dieses Gesicht war, sie wollte lieber weit weg von ihm sein! Doch am darauf folgenden Tag saß Doreen vor Beginn der ersten Stunde sehr still auf ihrem Platz in der Schule. Sie hatte den ganzen vorherigen Tag damit zugebracht über das fremde Gesicht im See nachzudenken. Sogar geträumt hatte sie von ihm. Also Doreen den ersten Schock überwunden hatte, hatte sie sich über sich selbst geärgert. „Eigentlich hatte der Junge im See doch ganz nett ausgesehen“, dachte sie. „Wieso bin ich bloß weggelaufen? Ich hätte mir genauer anschauen sollen, woher er kommt und was er im See will. Ob ich heute Mittag nochmal hinreiten soll?“ Tief in Gedanken versunken, bemerkte Doreen zuerst nicht, wie die Tür aufging und ihre Klassenlehrerin Frau Stumpf den Raum betrat. Schließlich blickte sie doch auf und sah die Lehrerin, die verspäteten Mitschüler, die hinter Frau Stumpf hertrotteten und... - „Das ist ja...“, schoss es Doreen durch den Kopf. - „Darf ich euch euren neuen Mitschüler vorstellen?“, unterbrach Frau Stumpf Doreens Gedanken. „Das ist Ruben. Er wird ab heute in eurer Klasse sein. Doreen, kann er auf dem freien Platz neben dir sitzen?“ - Doreen nickte verwirrt und starrte immernoch den Jungen namens Ruben an. Das war er! Ganz sicher! Der Junge aus dem See! Sie erkannte ihn sofort an seinen eisblauen Augen, mit denen er sie anblickte. Während Doreen ihn immernoch ungläubig anstarrte, lächelte der Junge ihr schüchtern zu. „Nettes Lächeln“, dachte Doreen. Und plötzlich wurde ihr klar, dass dieser Junge und sie irgendwie zusammengehörten. Sie wusste nicht wie und warum, aber sie wusste, dass es so sein musste. „Mantibar“, dachte Doreen lächelnd. „Ich weiß zwar nicht, was du da gestern getan hast, aber ich danke dir schon jetzt dafür.“